Ankommen Sachsenbrücke

 

Anleitung & Motivation

 

Du wirst das Foto eines Protagonisten/einer Protagonistin auf der Sachsenbrücke sehen und eine weitere Einstellung im privaten Umfeld, welches Teile der Peripherie verkörpert. Zwischen den aufeinander bezugnehmenden Aufnahmen gibt es weitere Porträts- und Stimmungsfotos. Fallweise betrachtest du mehrere Personen, aber es werden nicht alle beleuchtet. An dieser Stelle bist du gefordert aufmerksam zu sein.

 

Nach über sechs Jahren in München zog ich im Juni 2020 nach Lipzia. Ich hatte vor in eine WG einzuziehen, aber das hat sich in letzter Sekunde verworfen. Plötzlich stand ich auf der Straße, mit vollgepacktem Auto, in einer unbekannten Stadt. Mir blieb keine andere Wahl, als die ersten Nächte im Bus zu schlafen, welchen ich am Elsterflutbett, im Clara Park, abstellte. Abends habe ich lautstarkes Treiben wahrgenommen und so die Sachsenbrücke kennengelernt.

 

In Bayern erfuhr ich einen Identitätsverlust, sowie erlitt ich einen Mangel an kultureller Vielfalt. Ausgehungert bezüglich authentischer Lebenskonzepte trat ich die Flucht an. Im Kontrast zum digitalisierten und pausenlos getakteten, von Effizienz und hohlem Erfolg angetriebenem Zeitgeist Deutschlands/Zentraleuropas, waren die verschiedenen Musiker auf der Brücke, welche sich teils ohne Verabredung via Internet oder Vereinen, zu Jamsessions einfinden, meine heilende Medizin. Nichts lügt mehr als ein Foto, sagte ein bekannter Maler zu mir. Während der ersten Aufnahmen dachte ich, ein Porträt pro Person genügt nicht aus, um ein Individuum in seiner Vielfalt zu zeigen. Menschen besitzen beinahe unendlich viele Facetten, haben mehrere Hobbies und Rollen inne. Das wollte ich festhalten, damit entstand die Idee die Porträtierten ein zweites Mal im Privatleben zu fotografieren.

 

Eigene Meinung

 

Protagonisten zeigen Singularität im Handeln und vereinen sich doch in der zentralen Belichtung einer zufälligen Häufung als Gesamtwerk im Kontext des Viadukts. Es sieht einen Straßenusiker und denkt, er arbeitet nicht, er ist sicher ein Typ ohne Ziele im Leben. Angesprochen sagt er: ‘‘Ich bin Softwareingenieur und arbeite an einer elektromechanischen Therapiehand, womit Lähmungen nach Schlaganfällen behandelt werden.‘‘ Oder ES sieht eine aparte Frau mit Kaffeebecher, darauf einen Plastikdeckel klemmend und ein Croissant in der Hand und denkt, sie ist oberflächlich. Nachgefragt sagt sie: ‘‘Ich bin aus der Ukraine und denke gerade über die Ursachen der Morde nach.‘‘

 

Blaming is failing

No judging

 

Die Brücke gibt mir das Gefühl, Menschen wollen miteinander sein. Ich sah ein Pakistaner mit einer Deutschen Frau Schach spielen. Wie ich recherchierte, lernten sie sich auf der Brücke kennen und besitzen unterschiedliche Lebenskonzepte. Unsere Gesellschaft mag zufällige Beziehungen immer mehr. Vor unbekannten Begegnungen und neuen Momenten haben Menschen weniger Furcht als vor bereits bekannten Situationen. In einer traditionslosen Existenz sind unbekannte Variablen fast unsere einzige Konstante, weil sich binden Verlust bedeutet und somit Schmerz.

 

Von außen betrachtet, kann es sich um eine psychosoziale Dilemmasituation handeln. Die ehemals gefühlvolle und analoge Weltkommunikation ist mutiert, verstummt und verschoben zur digitalen Methode, um sich zu profilieren. Kontaktaufbau erfolgt nur, wenn es positives Gefühl bringt oder, um eigene Probleme schnell zu lösen, also von praktischer Natur ist. Deshalb fühlen sich Menschen heutzutage verpflichtet gute Laune zu verbreiten. Das Smartphone ist unser stetiger Begleiter in der Gesäßtasche. Erfunden und weiterentwickelt von IBM, Nokia und Apple, löst es in mir die Frage aus, ob die Revolution der Kommunikation gesund ist? Sind diese Firmen vertrauenswürdig oder besitze ich eine schlechte Medienkompetenz?

 

Wissenschaftlich dokumentierte (negativ) Effekte:

Peer pressure

Cyberstalking

Incorrect grammar and spelling

Pattern

Disturbed sleeping

Weak eyesights

Difficult to make friends in real life

Social media addiction

False idolization

FOMO

Affects on romantic relationships

...

 

An Hauptbahnhof und Karl-Heine-Straße hängen gigantische Werbungen in 15 m x 15 m des neuen I-Phone XIII. Wer da noch ruhig bleibt, ist in meinen Augen schon erkrankt, gehirngewaschen und ängstlich sich einem realen Leben zu stellen. Weil es immer für mich da ist, es das Denken erleichtert, fühle ich mich verpflichtet mit dem Handy anstatt mit Menschen zu interagieren. Digitale Intelligenz enttäuscht weniger als der Mensch, bis sich dieser Trend umkehrt?

 

Mitunter schafft es diese Arbeit die humane Diversität der Brücke nachzuweisen. Eine Kanutin ist zu sehen, die sich auf den nächsten Wettkampf vorbereitet, ein Professor des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung, welcher mit seinem Enkel Eis isst oder Angestellte der SRL, welche um 4 Uhr Nachts die Brücke reinigen. Aber in Wirklichkeit ist das gleichzeitig ein Trugschluss, da es sich um einen öffentlichen Raum handelt. Schlussfolgernd habe ich nur einen kleinen Teil der menschlichen Diversität entdecken können. Was erfüllt das Leben eines Menschen am meisten, gibt Halt, Wert und ist gesund? ‘‘Gute Momente in Beziehung zu Menschen und eine Tätigkeit oder Berufung, die einem persönliche Bedeutung verleiht.‘‘ Mehr ist das Leben nicht aber es ist auch nicht weniger.

 

Prozess & Kritik

 

Die Fotoserie begann als Street Photography und ging dann in die Social Photography über. Somit entstand ein hybrider Ansatz aus Momentaufnahmen (Brücke) und geplanten Fototerminen (privat). Street Photography ist flüchtig und fast immer sind die Fotografien einmalig. Da ich mit Vorsicht und meist mit Absprache auf der Brücke knipste, gibt es diese Momente so gut wie nicht. Menschen zu fotografieren, ohne sie davor zu fragen, bildet die Realität ab und ist mein Ziel. Alles Andere ist im Zusammenhang der Realfotografie ein Kompromiss. Einige sagten, ''Klar kannst du ein Foto von mir auf der Brücke und auch ein zweites bei mir zuhause machen.'' Andere sagten, ‘‘Nein auf gar keinen Fall, was soll denn das überhaupt.‘‘ Generell ließ sich der Großteil ungern oder nicht fotografieren. Vielleicht weil ich unzureichend erklärt habe, was ich möchte?, sie nicht wissen, worum es in dem Projekt geht?, weil eine Antipathie vorhanden- oder weil zu viel Anziehung war?, oder weil sie nicht wissen, wo die Fotografien landen?, oder weil sie denken, sie sehen nicht hübsch aus?, oder weil kein bekannter Auftragsgeber dahinter steht?, oder weil ...? Es ist doch so, jedem zu erklären, warum ich dies mache, ist schwer. Dokumentationen, auch Künste im Allgemeinen beginnen mit einer Frage oder einem Problem, entwickeln sich fort und tangieren zumeist den Punkt F. F steht für Freiheit. Ein Konzept lebt dann, wenn es die Chance hat, sich während des Gestaltens zu wandeln.

 

Für eine Vielzahl der Menschen ist eine ungefragte Fotografie ein NOGO, dazu kommt die Tatsache, der Staat hat durch die DSGVO, Street Photography zum Aussterben verurteilt. Sie ist zwar als Kunstform anerkennt, wenn aber eine Person klagt, weil sie sich zum Beispiel unvorteilhaft abgelichtet sieht, einen schlechten Tag hatte oder einfach nur Geld vom Fotografen möchte, dann bekommt sie mindestens die Prozesskosten erstattet.

Ich frage dich nun: ‘‘Was glaubst du, passiert mit deinen Fotos, wo landen deine Bilder, wie glaubst du, erstellt ein Fotograf spontane und authentische Porträts in der Reportage- und Social Photogtraphy, zum Beispiel von einem Händler der eine Melone in Marseille in Stücke schneidet?‘‘

 

Trust

 

Durch die Schließung der Clubs kam es 2020 und 2021 immer wieder dazu, dass zu viele Besucher auf der Brücke waren. Und wenn dann auch noch zu viel Alkohol und/oder bewusstseinserweiternde Substanzen konsumiert wurden, wurde es unangenehm für das Stadtbild. Ein Mangel an Emotionsverarbeitung sowie körperlicher- und geistiger Bewegung entstand. Infolge ist es verständlich, wenn Menschen neue Freiräume und soziale Kontakte suchen. Hätten Politiker und Mitbürger dies wissen können? Gäbe es Gegenvorschläge zum Zuhause bleiben und einer sozialen Isolation und welche sind diese? An einem Sommerabend 2020 besuchte ich die Brücke, um zu fotografieren. Zwei Stunden nachdem ich fortging, um zwei Uhr Nachts, sprang ein Mann unter Drogeneinfluss ins Wasser. Es sprangen sofort Helfer in den Kanal. Aber der 32 jährige ertrank.

 

Derweil wurde Eigentum der Helfenden gestohlen. Bei der Polizei wurde das Verhalten als Raubstraftat eingestuft. Daraufhin räumte die Polizeibehörde den Sachsenbrückianern noch weniger Zugeständnisse ein. 2021 wurde eine Person auf der Brücke erstochen. Es ist nicht zu akzeptieren, wenn Menschen auf diese Weise von uns gehen. Die Brücke liegt in einem Naturschutzgebiet. Produktion von Müll ist ein negativer Aspekt des Menschen im allgemeinen. Besucher und Besucherinnen, die sich jetzt angesprochen fühlen, besitzen kein Respekt vor der Natur und verhalten sich umweltschädigend. Mein Appell lautet: ‘‘Bildungseinrichtungen sowie Eltern und Freunde müssen mutig sein und über maßvollen Konsum und Müllentstehung und dessen Konsequenzen aufklären.‘‘

 

Mein Wunsch für die Sachsenbrücke und deren Besucher ist es, eine Kommunikation zwischen Stadt und Musikern herzustellen, mit dem Ziel einen sicheren Resonanzraum für Konzerte und Jamsessions zu schaffen. Kulturelle Vielfalt ist gesund. Ich habe Brasilianische Coxinhas kennengelernt und möchte sie nicht mehr missen. Im Innersten führe ich eine Debatte, auf die ich noch keine Antwort fand. Sind die vielen Fotos eine verständliche und zusammenhängende Arbeit? Und welche Zukunft besitzt die Social Photography und die Sachsenbrücke in Anbetracht der immer stärker werdenden Ablehnung der Bürgergesellschaft sowie der gesetzlichen Einschränkungen durch den Staat?

 

‘‘Danke für dein Mitwirken am Projekt, ohne dich hätten ich das nicht geschafft.‘‘